Warum Elser kein uneingeschränktes Vorbild sein kann

Wäre er es, müsste man einen absurden "Leitfaden" befürworten

Über viele Jahrzehnte wurde Georg Elser als Marionette des britischen Geheimdienstes oder der Nationalsozialisten verkannt. Später ist die Rezeption Elsers in eine eher unkritische Idealisierung sämtlicher Aspekte seines Attentats auf Hitler umgeschlagen. Wohin diese Hagiografie1 letztendlich führen kann, verdeutlicht ein fiktiver "Leitfaden".


VON PETER KOBLANK (2009)

Elser hat etwas ganz Besonderes, ja Einzigartiges geleistet. Mit unglaublicher Energie hat er ein Ziel verfolgt, das heute aus der Retroperspektive überwiegend gutgeheißen wird. Elser ist zweifellos ein herausragender "Volksheld" unter den Widerstandskämpfern im Dritten Reich. Heute bedauern die meisten Menschen, dass er keinen Erfolg hatte.

Da das Blut Unschuldiger an seinen Händen klebt, ist und bleibt er aber eine tragische, eine problematische Figur. Wie alle bekannten Personen der Weltgeschichte lässt auch Elser sich nicht in ein simples Schwarz-Weiß-Schema pressen. Dieser Aspekt wird von all jenen übersehen, die glauben, dass aus der Eigenschaft "Held" automatisch die Eigenschaft der "Vorbildlichkeit" abzuleiten ist.

Im Falle Elsers ist es ist ja ein und dieselbe Handlung, die einem einerseits höchste Bewunderung abnötigt, aber andererseits auch Kopfschütteln erzeugt. Denn wenn Georg Elser tatsächlich in jeder Hinsicht als Vorbild taugte, dem die Jugend nachzueifern habe, müssten Lehrer konsequenterweise einen Leitfaden wie diesen oder einen ähnlichen an ihre Schüler verteilen:

Nimm dir Georg Elser als Vorbild!

Ein Leitfaden

  1. Wenn du der Meinung bist, die Politik deiner Regierung geht in eine falsche Richtung, musst du dir ernsthaft überlegen, ob es nicht an der Zeit ist, den Regierungschef zu beseitigen.
  2. Dies gilt beispielsweise, wenn du merkst, dass die Regierung einen Krieg plant oder dass sich die wirtschaftliche Lage der Arbeitnehmer in den letzten Jahren verschlechtert hat.
  3. Wenn die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung von dem Regierungschef, seiner Politik und der gegenwärtigen Staatsform begeistert ist, spielt das keine Rolle. Es reicht ja, wenn wenigstens du die Wirklichkeit durchschaust.
  4. Folge einfach nur deiner inneren Stimme. Sie sagt dir das, was du tun musst. Du solltest auch mit niemandem anders über deine Überlegungen reden. Das könnte ja deinen Plan gefährden.
  5. Mach nicht den Fehler von Widerstandskämpfern wie z.B. Stauffenberg, die sich viel zu viel den Kopf darüber zerbrochen haben, wie es nach dem Attentat weitergeht. Nach deinem Attentat kann es ja nur bergauf gehen.
  6. Wenn du dich zur Tat entschlossen hast, überlege nicht lange, wie du es anstellst, geringstmöglichen Kollateralschaden anzurichten. Jedes Mittel ist gleich gut.
  7. Wenn es nicht anders geht, als beispielsweise in einem Kongresszentrum, in dem sich ein paar tausend Menschen aufhalten, eine Bombe zu zünden: Es spielt keine Rolle, wenn es ein paar hundert Tote und Verletzte gibt.
  8. Du darfst, wenn es sein muss, beliebig viele Anhänger einer Regierung töten, deren Schlechtigkeit du durchschaut hast. Dabei wirst du nicht schuldig. Schuldig werden die, die dazu nicht bereit sind.
  9. Du solltest aber darauf achten, dass niemand umkommt, der vielleicht kein Anhänger der Regierung ist (z.B. Kellnerinnen). Wenn es aber doch passiert, muss es so sein. Es ist ja für einen guten Zweck.
  10. Wenn du mit deiner Tat sehr vielen Menschen das Leben retten kannst oder wenn die Arbeitnehmer nachher endlich wieder mehr Geld verdienen, dann müssen diese paar Leute eben geopfert werden. Eine große Tat verursacht eben manchmal einen gewissen Kollateralschaden.
  11. Falls du eine Zeitbombe verwenden musst und sich herausstellt, dass dein eigentliches Ziel zum Zeitpunkt der Explosion garnicht mehr da ist, ist es eben dumm gelaufen. Damit musst du ja nicht rechnen. Wichtig ist vor allem, dass dir selbst nichts passiert. Du solltest dann möglichst schon außer Landes sein.
  12. Falls dir deine Religion einreden will "Du sollst nicht töten": Diese Leute darfst du ruhig töten. Du weißt ja, dass es sein muss. Du hast, wenn du ein Unheil kommen siehst, nicht nur das Recht, sondern die moralische Pflicht dazu.
  13. Wenn dein Gott dir die Wahrheit enthüllt und alle anderen verblendet hat, dann gehe deinen Weg. Wenn dich Zweifel plagen, dann suche dir eine Kirche oder eine Moschee und sprich einfach mit deinem Gott. Er hat dich erwählt und wird dir die Kraft geben, die du brauchst.
  14. Die anderen wenigen, die auch wie du gegen die Politik der Regierung sind, wissen genau, dass eigentlich auch sie so ein Attentat verüben müssten. Sie würden es ja auch tun, wenn sie nicht so denkfaul, feige und inkonsequent wären. Ihnen fehlt die Zivilcourage.
  15. In Wirklichkeit ist ein Attentat ganz einfach. Jeder kann das. Und jeder darf das. Man muss es nur wirklich wollen und sich nicht so dämlich anstellen, wie die meisten anderen Widerstandskämpfer im Dritten Reich.
  16. Wenn dein Plan wider Erwarten scheitert, dann wird das Unheil, das du vorhersiehst, früher oder später eintreffen. Womöglich kommt es sogar noch schlimmer, als du es dir momentan vorstellen kannst. Deshalb wird man später deine Weitsicht bewundern, Straßen nach dir benennen und dir Denkmale bauen.
  17. Wenn dein Plan aber gelingt, wirst du als Verbrecher in die Geschichte eingehen. Denn dann tritt ja das Unheil, was du verhindern willst, nicht mehr ein. Keiner außer dir wird dann jemals wissen können, wie Recht du hattest. Aber so will es dein Schicksal.

Jeder dieser Punkte lässt sich mit den spezifischen Begleitumständen und Tatmerkmalen im Fall Elser in Deckung bringen. Wer allen Ernstes Georg Elser ohne jeden Vorbehalt unkritisch zum Vorbild verklärt, der sollte dann ehrlicher Weise auch sein Einverständnis zu diesem absurden Leitfaden erklären. Und der eine oder andere Elser-Verehrer würde dies ja fatalerweise sogar tun.

Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wer alles ab sofort mit Fug und Recht sich auf Elser berufen und seine Taten mit dieser Handlungsanleitung rechtfertigen könnte.

Wenn dieser Leitfaden aber moralisch nicht vertretbar ist, dann ist bewiesen, was in diesem Artikel zu beweisen war.

1Hagiografie ist laut Wikipedia die Darstellung des Lebens von Heiligen. Im übertragenen Sinne bezeichnet der Begriff Hagiografie eine unkritische und euphemistische Biographie, die den Beschriebenen als "Heiligen" im Sinne eines vorbildhaften Menschen ohne Makel darstellt.

Lothar Fritze, Legitimer Widerstand? Der Fall Elser
Hanka Kliese, Interview mit Lothar Fritze
Mathias Brodkorb, Was Immanuel Kant zum Hitler-Attentat Elsers gesagt haben würde...

Dieser Artikel ist Teil der Online-Edition Mythos Elser.