ZEITGESCHICHTE

Rätsel um den Mord an Georg Elser

50 Jahre nach dem Tod des Hitler-Attentäters sind die Hintergründe
des Anschlags und die Todesumstände noch nicht restlos aufgeklärt

Von Axel Kintzinger


Eigentlich wollte Adolf Hitler in diesem Jahr absagen. Die deutsche Wehrmacht zog gerade durch Polen, und der Diktator hatte eher die Planung weiterer Feldzüge im Kopf, als in München alte Kämpfer seiner nationalsozialistischen Bewegung zu ehren. Aber Tradition verpflichtet: Hitler sprach, wie jedes Jahr am 8. November, im Haidhausener Bürgerbräukeller vor bierseligen, verdienten Parteigenossen.

Aber dieses eine Mal, 1939, kam der braune Führer schneller zum Ende als gewohnt. In nur gut einer Stunde brüllte er eine Hetzkanonade gegen England, um sich schon kurz nach 21 Uhr auf den Weg zum Bahnhof zu machen. Um 21.20 Uhr explodierte mit ohrenbetäubendem Knall eine Bombe. Mauerwerk brach zusammen, Balken krachten, ein Teil der Decke stürzte ein. Acht Menschen starben, über 60 wurden verletzt.

Die Sicherheitsbehörden konnten schnell einen Erfolg melden. Grenzer hatten am selben Abend bei Konstanz einen Mann aufgegriffen, der in die Schweiz fliehen wollte: Georg Elser, damals 36, ein arbeitsloser Schreinergeselle aus Königsbronn in der Schwäbischen Alb.

Viel anzufangen wussten die Ermittler mit dem unscheinbaren Mann allerdings nicht. Er trug bei seiner Festnahme zwar das Zeichen des Rotfrontkämpferbunds am Revers, aber Kontakte zur verbotenen Kommunistischen Partei fehlten. Was Hitler, Sicherheitschef Himmler und natürlich die Gestapo auf die Palme brachte: Trotz schwerster Folter gelang es nicht, die Namen von Mittätern aus Elser herauszuprügeln.

Nationalsozialistische Verschwörungstheorien

Dass es Hintermänner und Drahtzieher geben musste, war für die NS-Führung ausgemachte Sache. Zum einen trauten sie dem einfachen Schreiner nicht zu, die komplizierte "Höllenmaschine" allein konstruiert und installiert zu haben. Zum anderen wollte Hitler die Tat den Engländern in die Schuhe schieben - nicht zuletzt, um die von ihm geplante "Westoffensive" gegen den Inselstaat zu legitimieren.

Um den Verdacht öffentlich zu unterstreichen, lockte man die beiden britischen Geheimdienstoffiziere Sigismund Payne Best und Richard Stevens, die in Holland stationiert waren, kurz nach der Explosion in eine Falle und entführte sie nach Deutschland.

Die Gestapo verhörte auch sie pausenlos. Doch es ergab sich nicht der geringste Hinweis auf irgendeinen Zusammenhang mit dem Attentäter.

Sowohl Elser als auch die Briten wurden inhaftiert, aber nicht hingerichtet. Hitler wollte die "Verschwörung", wenn der Krieg erst mal gewonnen war, in einem Schauprozess "aufdecken" lassen.

Nach schweren Misshandlungen in der Gestapo-Zentrale in Berlin sperrte man Elser zuerst ins KZ Sachsenhausen, gegen Ende des Kriegs brachten die Nazis ihn ins KZ Dachau. Kurz vor der Befreiung durch amerikanische Truppen wurde Georg Elser, angeblich auf Befehl aus Berlin, umgebracht. Historiker geben den 9. April 1945 als Todestag an.

Vernachlässigung eines Helden

In der Geschichtsschreibung über den antifaschistischen Widerstand spielte Elsers Tat eine nur untergeordnete Rolle. Während die Bundesrepublik sich auf die Ehrung des Widerstandskreises um Graf Stauffenberg konzentrierte, feierte die DDR in erster Linie die kommunistische Opposition. Ein rechtschaffener, gottesfürchtiger Einzeltäter passte weder hüben noch drüben ins Bild.

Ein weiterer Grund für die Vernachlässigung: In den 50er Jahren gingen viele davon aus, das Attentat sei von der Gestapo selbst inszeniert worden. Noch 1958 legte sich der Geschichtsprofessor Hans Rothfels fest: "(Es) ist doch wohl keine Frage, dass die Installation einer Höllenmaschine nicht ohne Hilfe der Gestapo möglich gewesen ist und Hitlers Rede planmäßig vor der Explosion abgebrochen wurde." Historische "Erkenntnisse", denen zufolge Elser bereits in den 30er Jahren im KZ Dachau gesessen hätte, wurden in den wenigen Forschungsarbeiten ungeprüft übernommen.

Erst 1959 kippte diese Darstellung. Der junge Reporter Günter Peis konnte, nach akribischer Recherche in Archiven und bei Zeitzeugen, die andere Geschichte des Attentäters Georg Elser erzählen. "Manchmal war es ganz einfach", erinnert sich Peis heute, "vermeintliche historische Wahrheiten umzustoßen." So ergab eine einzige Anfrage im Archiv der Dachauer KZ-Gedenkstätte, dass Elser dort vor dem Attentat nie eingesessen hatte. Zudem konnten Nachbarn, Kollegen und Verwandte Elsers Lebenslauf für diese Zeit lückenlos dokumentieren. Es gab nicht die Spur eines Hinweises auf Kontakte Elsers zur Gestapo.

Im Gegenteil. Der verschlossene Elser hatte den wenigen Freunden gegenüber nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen die Nazis gemacht. Ideologien waren dem Schreinergesellen dabei fremd, Marx hatte er mutmaßlich nie gelesen.

Elser, der trotz allseits geschätzter handwerklicher Fähigkeiten mehrmals seine Stelle verlor, verglich die Situation der deutschen Arbeiter mit den Parolen der Nationalsozialisten - und ärgerte sich über die erhebliche Differenz zwischen Realität und Propaganda. Und dass Hitler Deutschland in einen Krieg mit unabsehbaren Folgen stürzen würde, war selbst dem kleinen Handwerker auf der Schwäbischen Alb klar.

Als Oppositioneller ist er dennoch nie aufgefallen - weder seiner Familie noch seinen Kollegen oder den Bekannten im Zitherkreis des Orts, wo Elser musizierte.

Der Wahrheit auf der Spur

Fünf Jahre nach Peis' erster Veröffentlichung in der "Bild am Sonntag" über den "Einzeltäter" Elser war der Fall dieses Attentäters für den Journalisten noch immer nicht beendet. Wieder und wieder befragte er Zeitzeugen aus der Umgebung Elsers. Und wurde fündig. 1964 begann Peis eine dreiteilige Elser-Serie im "stern" mit der Geschichte über den Tod eines Mannes, der eine Schlüsselrolle spielen könnte: Karl Kuch, damals 52 Jahre alt, gebürtiger Königsbronner und mittlerweile Schweizer Staatsbürger mit Wohnsitz in Zürich, wo er seinen Lebensunterhalt als Klaviermacher bestritt.

Auf Kuch war Peis in Gesprächen mit dem Steinbruchbesitzer Georg Vollmer gekommen. In dessen Firma hatte Elser eine Zeitlang gearbeitet, aus dessen Magazin entwendete der stille Mann den Sprengstoff, den er für die Bombe brauchte. Tag für Tag nahm er unauffällig kleine Mengen mit nach Hause, bis er für seine "Höllenmaschine" genügend Material zusammen hatte.

Kuch, der seinen in der Schweiz erworbenen Reichtum bei Heimatbesuchen in Königsbronn demonstrativ zur Schau stellte, galt als eine schillernde, aber undurchschaubare Person. Seine ehemaligen Schulfreunde zuckten immer etwas zusammen, wenn Kuch in Königsbronn öffentlich und ungeniert Hitler-Witze zum Besten gab oder düstere Prognosen über einen bevorstehenden Krieg anstellte. Sie beneideten Kuch, weil er die nationalsozialistischen Devisenbestimmungen ausnutzte und bei seinen Fahrten über die Grenze Geld und Gold schmuggelte.

Kuch brüstete sich in Anspielungen mit Insiderwissen über Sabotageaktionen und Sprengstoffanschläge gegen die deutsche Marine. Tatsächlich bewegten sich bekannte Nazigegner wie der frühere Nazianhänger und spätere Hitler-Feind Otto Strasser in seiner Nähe - Strasser wohnte in Zürich nur vier Häuser von Kuch entfernt.

Peis provozierte die Historiker, die sich gerade an die Einzeltäter-These gewöhnt hatten, mit einer gewagten Spekulation: "Es ist Tatsache, dass Karl Kuch Chef einer kommunistischen Dreiergruppe war, die dieses Attentat geplant hatte. Elser war der zweite, der Kellner Ketterer aus der Bahnhofsgaststätte Aalen wahrscheinlich der dritte Mann der Gruppe." Elser und Ketterer hätten sich nicht gekannt. Hinter Kuch, suggerierte Peis damals, standen Geheimdienste, britische oder sowjetische.

Akzeptiert wurde diese neue These von akademischen Historikern nicht. Noch in der jüngsten Elser-Biographie, in Helmut Ortners "Der einsame Attentäter" (Steidl Verlag) von 1993, ist in diesem Zusammenhang von einer "Verschwörungstheorie" und "recht freizügigen Spekulation" die Rede, die von dem Historiker Anton Hoch "nachdrücklich widerlegt" worden sei. Hoch hatte sich als Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München lange Jahre mit dem Fall Elser beschäftigt und keine Belege für eine Konspiration zwischen Elser und Kuch gefunden.

Immerhin, und da sind sich alle Elser-Forscher einmal einig, hat Georg Elser die technischen Vorbereitungen und die Ausführung des Bombenanschlags ganz allein gemacht. Denn: Karl Kuch ist bereits am Pfingstmontag 1939, also rund fünf Monate vor dem Attentat, nach einem Treffen mit Ketterer bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben gekommen.

Daher sei eine Verbindung zu Kuch ohnehin irrelevant. Außerdem könne sich niemand in Königsbronn, so Hochs Forschungsergebnis, an eine Bekanntschaft Elsers mit Kuch erinnern.

"Ihr mit eurem Hitler"

Doch Peis glaubt, gute Zeugen zu haben. Zum einen erinnern sich Raimund und Georg Vollmer, Söhne des verstorbenen Steinbruchbesitzers, noch heute gut daran, vom Vater gehört zu haben, dass Kuch und Elser häufig zusammengesteckt hätten. Kuch war zudem oft Gast im Hause der Vollmers. Der damals 14jährige Raimund erzählt vom letzten Besuch. "In starker Erregung" habe Kuch Vollmers Eltern gesagt: "Ihr mit eurem Hitler, was ihr bloß dauernd mit ihm habt, der fängt doch sowieso einen Krieg an - aber seid beruhigt, vorher machen wir ihn kaputt."

Die Vollmer-Brüder sind nicht die einzigen Zeugen. Auch ein Nachbarmädchen, Liesl Ludwig, will Elser und Kuch ins Gespräch vertieft beobachtet haben.

Die Widersprüche in der Geschichtsschreibung über eine mögliche Konspiration zwischen Elser und Kuch sowie der eventuelle Geheimdiensthintergrund hätten keine große Bedeutung, wenn nicht auch der Tod Georg Elsers im Frühjahr 1945 in Dachau von merkwürdigen Umständen geprägt wäre.

Journalist Peis, der sich in den 60er und 70er Jahren mit Büchern und Reportagen über die jüngere Geschichte einen Namen erschrieben hatte, blieb dem Fall Elser treu - und mochte nicht hinnehmen, dass die etablierte Wissenschaft seine aufwendig recherchierten Erkenntnisse so brüsk ablehnte.

Das besondere Interesse des Rechercheurs galt nun einem Schreiben der Himmler-Behörde an den Leiter des KZs Dachau, SS-Obersturmbannführer Weiter, vom 5. April 1945. Darin wird zum einen die Überstellung prominenter Sachsenhausen-Häftlinge nach Dachau angekündigt. Zu ihnen zählten neben Personen aus dem Umfeld des 20.-Juli-Attentäters Graf Stauffenberg auch der Engländer Best, Hitlers Gefangener seit Elsers Bombenanschlag im Bürgerbräukeller.

Zum anderen erging folgende Weisung: "Bei einem der nächsten Terrorangriffe auf München bezw. die Umgebung von Dachau ist angeblich "Ella" (Code-Name für Elser - d. Red.) tötlich verunglückt. Ich bitte, zu diesem Zweck "Ella" in absolut unauffälliger Weise nach Eintritt einer solchen Situation zu liquidieren."

Dieses Schreiben, so Peis, ist eine Fälschung. Dafür spricht tatsächlich einiges. Das Geschäftszeichen unter dem Briefkopf ist nahezu kryptisch. Der Zusatz "Geheime Reichssache" ist untypisch mit der Hand hinzugefügt. Der Brief beinhaltet erstaunliche Orthographiefehler - z. B. "tötlich". Einige Formulierungen - "Ich bitte, auf jeden Fall besorgt zu sein" - passen nicht zum üblichen SS-Kommandoton und klingen zudem auffällig nach einer direkten Übersetzung vom Englischen ins Deutsche. Die Unterschrift ist fast schon gewollt unleserlich gekrakelt, der Name kann keinem Zuständigen in Himmlers Sicherheitspolizei zugeordnet werden.

Der gravierendste Makel: Auf dem ursprünglichen, von Best nach dem Krieg in einem Buch faksimilierten Brief, fehlt das bei solchen Schreiben übliche Zeichen Heinrich Himmlers, ein Kreuz in der oberen rechten Ecke. Das muss jemandem aufgefallen sein.

Denn als Best den Brief einige Zeit später als Beweismittel in einem Prozess gegen NS-Verbrecher nach Deutschland schickt, ist Himmlers Zeichen plötzlich drauf.

"Der Autor", meint Peis, "war offenbar Best." Der Brite hatte Motive genug, diesen Befehl zu fabrizieren. So hätte er sich damit, gemeinsam mit den anderen "prominenten" Häftlingen, im Chaos des untergehenden Nazi-Deutschlands eine bevorzugte Behandlung in Dachau gesichert.

Vor allem, vermutet Peis, "hat Best die Aussagen gefürchtet, die Georg Elser nach der bevorstehenden Befreiung hätte machen können". Nach dem Münchener Anschlag ist Best, parallel zu Elser, in Berlin verhört worden und hatte dabei kriegsrelevante Interna aus dem britischen Geheimdienst offenbart. Peis: "Best hatte Angst, dass Elser diese Aussagen bekannt geworden waren."

Angst vor Elser musste aber auch ein SS-Mann haben, der den "Prominenten"-Transport von Sachsenhausen nach Dachau begleitete: Wilhelm Gogalla. Er tat sich bei den Folterungen Elsers im Prinz-Albrecht-Palais als der brutalste Aufpasser hervor. Und er kann auf dieser Fahrt Anfang April 1945 im Besitz des Briefpapiers gewesen sein, auf dem der Befehl zur Ermordung Elsers geschrieben wurde.

Dachauer Deal

Peis vermutet eine "Dachauer Verschwörung". Demnach haben die prominenten Häftlinge mit ihren SS-Bewachern "einen Deal ausgehandelt", der sich so darstellt: "Ihr bringt uns aus diesem Hexenkessel heil raus, und wir entlasten euch nach dem Krieg."

Tatsächlich wurden einige Häftlinge des Dachauer Sonderblocks vor der Befreiung evakuiert. Und tatsächlich ist gegen Verbrecher wie Gogalla in dieser Sache nie Anklage erhoben worden. Der Zeuge Elser hätte ohnehin nicht mehr aussagen können. Ihn hat man nicht evakuiert, sondern erschossen.

Axel Kintzinger: Rätsel rund um den Mord an Georg Elser, in: "Focus" 14/1995 (3.4.1995) S. 60 ff