Adolf Hitler, Wilhelm Tell und Georg Elser

Den Todesstahl in die Brust des verhassten Einzigen zu stoßen

In "Mein Kampf" lobte Adolf Hitler den Dichter des "Tell" noch als "größten Freiheitssänger unseres Volkes". 1941 ließ der Diktator Friedrich Schillers Drama verbieten. Ist Georg Elser ein moderner Wilhelm Tell?


VON PETER KOBLANK (2008)

Nach dem gescheiterten Münchener Putsch schrieb Adolf Hitler während seiner Haft in Landsberg 1924 den ersten Band seines Bestsellers "Mein Kampf". 1926 erschien der zweite Band, den Hitler nach seiner Entlassung verfasst hatte.

In diesem zweiten Band ging Hitler im 9. Kapitel "Grundgedanken über Sinn und Organisation der SA" auf die Frage des Tyrannenmordes ein. Er setzte sich mit der Meinung auseinander,

es könnte das Schicksal eines Volkes wirklich durch eine einzelne Mordtat plötzlich im günstigen Sinne entschieden werden.

Solch eine Meinung kann ihre geschichtliche Berechtigung haben, nämlich dann, wenn ein Volk unter der Tyrannei irgendeines genialen Unterdrückers schmachtet, von dem man weiß, dass nur seine überragende Persönlichkeit allein die innere Festigkeit und Furchtbarkeit des feindlichen Druckes gewährleistet.

In solch einem Fall mag aus einem Volk ein opferwilliger Mann plötzlich hervorspringen, um den Todesstahl in die Brust des verhassten Einzigen zu stoßen.

Und nur das republikanische Gemüt schuldbewusster kleiner Lumpen wird eine solche Tat als das Verabscheuungswürdigste ansehen, während der größte Freiheitssänger unseres Volkes sich unterstanden hat, in seinem "Tell" eine Verherrlichung solchen Handelns zu geben.

Dies ist unter Berufung auf den "größten Freiheitssänger unseres Volkes", Friedrich Schiller, ein unmissverständliches Votum pro Tyrannenmord.

   Wilhelm-Tell-Denkmal

Wilhelm-Tell-Denkmal in Altdorf (Schweiz)
von 1895

Wilhelm Tell

Wilhelm Tell war der Sage zufolge ein schweizerischer Freiheitskämpfer und Tyrannenmörder, der Anfang des 14. Jahrhunderts in der Schweiz gelebt haben soll. Tell soll 1307 in der Hohlen Gasse bei Küssnacht am Rigi den hohen habsburgischen Staatsbeamten Hermann Gessler, Reichsvogt in Schwyz und Uri, mit einem Pfeil aus seiner Armbrust erschossen haben.

Friedrich Schiller verfasste 1804 das berühmte gleichnamige Bühnenwerk, sein letztes fertiggestelltes Drama. Tell verkörpert Schillers Ideal des freien Menschen, der sich von keinem anderen menschlichen Wesen unterjochen lässt.

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist Tell der Nationalheld der Schweiz.

Rolf Hochhuth: Ein Tell totalitärer Zeiten

Der Schriftsteller Rolf Hochhuth war der erste, der einen Bezug zwischen Georg Elser, der 1939 das gescheiterte Bürgerbräuattentat auf Hitler verübte, und Wilhelm Tell herstellte. In seinem 1987 veröffentlichten Gedicht "Johann Georg Elser" führt er in der dritten Strophe aus, dass Elser ein noch einsamerer Attentäter war, als der Wilhelm Tell der Schweizer Sage:

Friede oder - Hitler! Ein Tell totalitärer Zeiten,
so viel vereinsamter als der des Mythos,
wie Hitlers Volk den Zwingherrn liebt,
der in Europa fünfzigmal mehr Menschen,
als vor dem Krieg in München leben,
in Gräber wirft, auf Aschehalden,
dreihunderttausend vor die Fische...

Erhard Jöst: Der deutsche Wilhelm Tell

Noch gründlicher lotete der Autor Erhard Jöst die Parallelen zwischen Elser und Tell bei einer Gedenkfeier zum 63. Todestag Elsers aus:

"Der Starke ist am mächtigsten allein." Jeder kennt diesen Ausspruch, den Friedrich Schiller dem Wilhelm Tell in den Mund legt. Gewiss: Eine äußerst problematische und umstrittene Aussage, eine fragwürdige und gefährliche Einstellung. Viele haben sie zu Unrecht für sich in Anspruch genommen, nicht aber Johann Georg Elser, ...

Elser war ein Einzeltäter ähnlich wie Schillers Tell. Dieser antwortet auf Stauffachers Aussage, "Wir könnten viel, wenn wir zusammenstünden", mit: "Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst." Der enttäuschte Stauffacher hakt nach: "So kann das Vaterland auf Euch nicht zählen, wenn es verzweiflungsvoll zur Notwehr greift?" Und Tell, ihm die Hand gebend, erläutert seine Haltung:

"Der Tell holt ein verlornes Lamm vom Abgrund,
Und sollte seinen Freunden sich entziehen?
Doch was ihr tut, lasst mich aus eurem Rat,
Ich kann nicht lange prüfen oder wählen;
Bedürft ihr meiner zu bestimmter Tat,
Dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen."

Wilhelm Tell beteiligt sich nicht am Rütli-Schwur, er tötet den Landvogt Gessler ohne Absprache als Einzeltäter und avanciert dadurch zum allseits anerkannten Retter des Landes. Auch Johann Georg Elser beteiligte sich an keiner Verschwörung, sondern bastelte allein und ohne Absprache die Bombe, mit der er Deutschland von dem Diktator befreien wollte. ...

In Schillers Schauspiel "Wilhelm Tell" hält Stauffacher eine bewegende Rede, auf die sich auch Elser hätte berufen können:

"Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last - greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ew'gen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst -
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht -
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben -
Der Güter höchstes dürfen wir verteid'gen
Gegen Gewalt - Wir stehn vor unser Land,
Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder!"

Lässt man das Pathos weg, dann lautet die Quintessenz der Verse: Wenn ein Tyrann die Menschenrechte außer Kraft setzt, dann ist Widerstand gegen ihn erlaubt, ja sogar geboten. Diese Auffassung hat sicherlich auch Elser vertreten. ...

Dennoch bleibt es ein moralisches Problem, wenn ein Mordanschlag ohne die rechtfertigende Einbindung in eine Gruppe durchgeführt und der Tod von Unbeteiligten in Kauf genommen wird. Auch Friedrich Schiller war sich der Brisanz durchaus bewusst, die sein Schauspiel "Wilhelm Tell" enthielt, indem es den politischen Mord feiert.

Er hat dem Attentäter Tell klare Aussagen in den Mund gelegt, um von vorne herein Missverständnissen und Fehlinterpretationen entgegenzutreten. Bevor Wilhelm Tell den Landvogt Gessler erschießt, legt er Rechenschaft ab. Zwar lauert er auf "des Feindes Leben", aber nur, um die "holde Unschuld" der "lieben Kinder" zu verteidigen, um sie zu schützen vor der Rache des Tyrannen."

Und um auszuschließen, dass sich jeder beliebige Attentäter auf Tell als Vorbild berufen kann, führt Schiller eine Begegnung zwischen seinem Titelhelden und Johannes Parricida herbei, der den Kaiser, seinen Onkel, ermordet hat, weil dieser ihm sein Erbe verweigerte. Dem Kaisermörder, der sich mit ihm auf eine Stufe stellen möchte, hält Tell entgegen:

"Unglücklicher!
Darfst du der Ehrsucht blut'ge Schuld vermengen
Mit der gerechten Notwehr eines Vaters?
Hast du der Kinder liebes Haupt verteidigt?
Des Herdes Heiligtum beschützt? Das Schrecklichste,
Das Letzte von den Deinen abgewehrt?
- Zum Himmel heb' ich meine reinen Hände,
Verfluche dich und deine Tat - Gerächt
Hab' ich die heilige Natur, die du
Geschändet - Nichts teil' ich mit dir - Gemordet
Hast du, ich hab' mein Teuerstes verteidigt."

1941 ließ Hitler den "Tell" verbieten

Im Dritten Reich stand der "Tell" in hohem Ansehen, wurde verfilmt und war das meistgespielte Bühnenstück Schillers. Am 20. April 1938 wurde es im Wiener Burgtheater als "Festvorstellung zum Geburtstag des Führers" mit großem Pomp und Aufgebot gegeben.

Spätestens 1941 realisierte Hitler jedoch, dass seine Person durchaus auch mit dem Landvogt Gessler gleichzusetzen war.

Dabei wird weniger das Bürgerbräuattentat eine Rolle gespielt haben: Elser galt damals als gedungener Auftragskiller, dessen Hintermänner eines Tages schon noch ans Licht kommen würden. Eher dürfte der junge Schweizer Maurice Bavaud einen Ausschlag gegeben haben, der im Alter von 22 Jahren vergeblich versucht hatte, Hitler im November 1938 mit einer Pistole zu erschießen. Wenige Tage nach dessen Hinrichtung am 14. Mai 1941 veranlasste Hitler folgende Anordnung:

Reichsleiter Martin Bormann
Führerhauptquartier - 3. Juni 1941
An Herrn Reichsminister Dr. Lammers
Berchtesgarden, Reichskanzlei
Streng vertraulich!
Sehr geehrter Herr Dr. Lammers!
Der Führer wünscht, dass Schillers Schauspiel "Wilhelm Tell" nicht mehr behandelt wird. Ich bitte Sie, hiervon vertraulich Herrn Reichsminister Rust und Herrn Reichsminister Dr. Goebbels zu verständigen.
Heil Hitler! Ihr Martin Bormann

Damit hörte dieses ursprünglich von der Nationalsozialisten hochgeschätzte "National- oder Führerdrama" auf, für die deutsche Öffentlichkeit zu existieren.

Auf Veranlassung des Propagandaministers Joseph Goebbels verschwand noch im selben Jahr der "Tell" von den Bühnen. Bernhard Rust, Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, verbannte das Stück aus dem Schulunterricht. Keine Bibliothek durfte das Werk fortan ausleihen, keine Textstelle durfte mehr in den neuen Lesebüchern abgedruckt werden.

Ausgerechnet Schiller musste diesen Schweizer Heckenschützen verherrlichen,

beklagte sich Adolf Hitler am 4. Februar 1942 bei einem von Henry Picker überlieferten Tischgespräch über den Dichter, den er sechzehn Jahre zuvor als den größten Freiheitssänger unseres Volkes bezeichnet hatte.


Quellenangaben

Adolf Hitler: Mein Kampf, Zweiter Band, München 1926
Rolf Hochhuth: Johann Georg Elser, in: War hier Europa? Reden,Gedichte, Essays, München 1987
Erhard Jöst: Johann Georg Elser - der deutsche Wilhelm Tell, Heidenheim 2008
Peter Koblank: Was versteht man unter einem "Attentat"?, in: Online-Edition Mythos Elser
Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, Stuttgart 1951
Georg Ruppelt: Hitler gegen Tell, Hannover 2004

Dieser Artikel ist Teil der Online-Edition Mythos Elser.