Rote Kapelle

Gestapo-Bericht über die Aufrollung der Spionage- und Widerstandsgruppen

Zwischen Dezember 1941 und November 1942 fielen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Belgien, Niederlande, Frankreich und Deutschland mehrere Gruppen in die Hände, die mit Hilfe von Kurzwellensendern für die Sowjetunion Spionage betrieben. Beteiligt waren auch Widerstandskämpfer in Berlin, die überwiegend kommunistisch orientiert waren und deren Netzwerk bei dieser Gelegenheit ebenfalls aufflog. Da man in Geheimdienstkreisen die Funker "Pianisten" nannte und eine Spionagegruppe "Kapelle", wurde für diesen Personenkomplex der Begriff Rote Kapelle geprägt. Der umfangreiche Bericht der Gestapo über die Aufrollung der Roten Kapelle wird hier erstmals veröffentlicht.


VON PETER KOBLANK (2014)

Erste Seite des Inhaltsverzeichnisses des Gestapo-Berichts über die Rote Kapelle.

Es handelt sich um eine der wichtigsten Quellen über die Rote Kapelle. Obwohl dieser Gestapo-Bericht - ähnlich wie das Berliner Verhörprotokoll des Bürgerbräuattentäters Georg Elser vom 19. bis 23. November 19391 - ein Schlüsseldokument darstellt und seit den 1960-er Jahren in fast jeder Publikation über die Rote Kapelle mehr oder weniger auf ihn zurückgegriffen wird, wurde er bisher noch nie veröffentlicht.

Verfasser

Der Bericht ist mit der Abschrift eines Begleitschreibens, das als Geheime Reichsache (gRs) klassifiziert ist, mit folgendem Absender überliefert:

Chef der Sicherheitspolizei und des SD
- IV A 2 - B. Nr. 330/42 gRs

Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) und Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) war zu dieser Zeit der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler (*1900 †1945), der seit Reinhard Heydrichs Tod im Juni 1942 diesen Posten kommissarisch wahrnahm. Am 30. Januar 1943 übernahm SS-Gruppenführer Ernst Kaltenbrunner (*1903 †1946) diese Funktion.

Das Amt IV (Gegner-Erforschung und -Bekämpfung Geheimes Staatspolizeiamt) leitete der SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei Heinrich Müller (*1900 †1945). Leiter der Gruppe IV A (Opposition) war der SS-Obersturmbannführer und Oberregierungsrat Friedrich Panzinger (*1903 †1959), der offiziell die Sonderkommission Rote Kapelle, die Ende Ende August/Anfang September 1942 in Berlin gegründet wurde, leitete.


Horst Kopkow
Bild: Spiegel-Archiv

Referatsleiter IV A 2 (Sabotagebekämpfung) war Kriminalrat Horst Kopkow (*1910 †1996), der die Sonderkommission faktisch leitete.

Das für diesen Bericht verantwortliche Referat IV A 2 war also folgendermaßen im Reichssicherheitshauptamt eingeordnet:

Chef der Sicherheitspolizei und des SD: Heinrich Himmler

  • Amt IV (Gegner-Erforschung und -Bekämpfung - Geheimes Staatspolizeiamt): Heinrich Müller
    • Gruppe IV A (Opposition): Friedrich Panzinger
      • Referat IV A 2 (Sabotagebekämpfung): Horst Kopkow

Horst Kopkow soll sich 1987 als Verfasser des hier veröffentlichten Berichtes zu erkennen gegeben haben.2

Entstehungszeitpunkt

Der Bericht wird schon Mitte November 1942 fertiggestellt worden sein, denn auf Seite 3 wird von der Verhaftung von Anatoli Markowitsch Gurewitsch (Kent, Petit Chef) am 12.11.1942 in Marseille berichtet. Hingegen hat die viel wichtigere Verhaftung von Leopold Trepper (Gilbert, Grand Chef) am 24.11.1942 in Paris keinen Eingang mehr gefunden.

Das Begleitschreiben ist auf den 22. Dezember 1942 datiert. Genau an diesem Tag wurden die ersten elf Mitglieder der Berliner Roten Kapelle in Plötzensee hingerichtet. Nachdem das Verfahren gegen die Rote Kapelle unter höchster Geheimhaltung abgelaufen war, wollte Gestapo-Chef Heinrich Müller, der das Begleitschreiben unterzeichnet hat, nun anscheinend im Auftrag Heinrich Himmlers einige hochgradige NS-Führer informieren. Eines dieser Schreiben geriet nach dem Zweiten Weltkrieg mitsamt dem 90-seitigen Bericht in die Hände des amerikanischen Geheimdienstes und schließlich in den National Archives in Washington.

Adressat


Franz Xaver Schwarz
Bild: Wikipedia

Adressat des Gestapo-Berichts war Frank Xaver Schwarz, Reichsschatzmeister und Reichsleiter der NSDAP, mit Amtssitz im Verwaltungsbau der NSDAP am Königsplatz in München. Es wird weitere Exemplare für andere wichtige NS-Größen gegeben haben, sie sind aber allesamt verlorengegangen.

Franz Xaver Schwarz (*1875 †1947) war als Reichsschatzmeister der NSDAP, Reichsleiter und SS-Oberst-Gruppenführer einer der wichtigsten, wenn auch weitgehend unbekannt gebliebenen Funktionäre der Partei. Von 1900 bis 1925 war er bei der Stadtverwaltung München beschäftigt, zuletzt als Verwaltungsoberamtmann. Im Ersten Weltkrieg diente er in der Bayerischen Armee, zuletzt im Rang eines Leutnants.

1922 trat er der NSDAP bei und beteiligte sich 1923 am Hitlerputsch. 1925 wurde er von Adolf Hitler zu deren Reichsschatzmeister, also zum obersten Verwalter der Finanzen der NSDAP ernannt. Diese Tätigkeit übte er, ab 1935 im Rang eines Reichsleiters, bis zum Ende der NS-Zeit im Mai 1945 aus. 1942 wurde er zum SS-Oberst-Gruppenführer befördert, dem höchsten Generalsrang bei der SS.

Bei Kriegsende geriet Schwarz in amerikanische Gefangenschaft. Zunächst wurde er bis August 1945 in einem Lager bei Bad Mondorf (Luxemburg) festgehalten. Anschließend wurde er in ein Internierungslager bei Regensburg gebracht, wo er im Alter von zweiundsiebzig Jahren starb. 1948 wurde er postum von einer Münchener Spruchkammer als Hauptschuldiger eingestuft.

Versionen


Manfred Roeder
Bild: Heinz Höhne

Nach dem Krieg veranlassten Überlebende der Roten Kapelle ein Untersuchungsverfahren der Staatsanwaltschaft Lüneburg gegen Manfred Roeder, der vor dem Reichskriegsgericht die Anklage gegen die Mitglieder der Roten Kapelle vertreten hatte. Bei dieser Untersuchung legte Roeder 1948 zu seiner Entlastung eine Abschrift des Gestapo-Berichts vor.

Diese Abschrift liegt heute im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv und umfasst siebenundzwanzig Seiten und acht Zeichnungen.3 Im Bundesarchiv liegt eine Ablichtung der Abschrift aus Niedersachsen, aber ohne die Zeichnungen.4 Auch wenn auf diese Roedersche Abschrift seit über fünfzig Jahren in fast allen Veröffentlichungen über die Rote Kapelle verwiesen wird, wurde sie erst Anfang 2014 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.4

Eine weitere, erst 1991 entdeckte5 Version, die umfangreich bebildert ist und mit Inhaltsverzeichnis über neunzig Seiten umfasst, liegt in den National Archives in Washington.6 Sie wurde am 2. Februar 1950 mit Secret klassifiziert und ist erst seit dem 15. Februar 1989 für Historiker zugänglich. Während die Echtheit der von Roeder vorgelegten Abschrift bezweifelt wurde,7 ist die Authenzität der Version in Washington über jeden Zweifel erhaben.5

Allerdings ist die Washingtoner Version möglicher Weise nicht die Vorlage der Roederschen Abschrift, denn die Seiten 62 und 80 fehlen. Die Akte der National Archives wurde nachträglich mit einem Paginierstempel Seite für Seite fortlaufend, beginnend mit der Nr. 579, durchnummeriert. Der Seite 61 (Paginier-Nr. 650) folgt unmittelbar die Seite 63 (Paginier-Nr. 651). Ebenso folgt der Seite 79 (Paginier-Nr. 667) die Seite 81 (Paginier-Nr. 668). Plausibel wäre aber auch, dass die Washingtoner Akte ursprünglich vollständig war, die zwei Seiten aber vor der Einlagerung im National Archive verloren gingen. Die Paginierstempel werden wohl erst im Rahmen einer Archivierung am 2. Februar 1953, so das Datum außen auf dem Aktenordner, angebracht worden sein. – Die beiden in der Washingtoner Akte fehlenden Seiten wurden in der nachfolgenden Edition an Hand der Abschrift, die im Bundesarchiv liegt, rekonstruiert.

Im Nachhinein lässt sich heute auch die Existenz der Abschrift erklären: Manfred Roeder war nach dem Krieg bei den Amerikanern interniert. Beim Counter Intelligence Corps (CIC), dem amerikanischen Militärgeheimdienst, war man überzeugt, dass Veteranen der Roten Kapelle immer noch für die UdSSR aktiv waren. Manfred Roeder wurde von den Amerikanern unter dem Decknamen Othello geführt und "im vollsten Umfang abgeschöpft", um so viel wie möglich über den sowjetischen Geheimdienst zu erfahren.8 Die Abschrift des Gestapo-Berichts, die Roeder 1948 vorlegte und die im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv bzw. im Bundesarchiv liegt, wurde offensichtlich nach dem Krieg auf einer ausländischen Schreibmaschine, wahrscheinlich in den USA, und vielleicht von dem in Washington liegenden Ur-Exemplar (damals noch einschließlich der Seiten 62 und 80) erstellt und Roeder, dessen Beziehungen zum CIC nicht abgebrochen waren, zugespielt, um ihn bei den gegen ihn laufenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, zu unterstützen. – Die Roedersche Abschrift ist vom Text her, abgesehen von offensichtlichen Flüchtigkeitsfehlern und Abkürzungen, die in der Washingtoner Version nicht verwendet werden, so gut wie deckungsgleich.

Online-Edition

Der Gestapo-Bericht aus den National Archives Washington, eine der wichtigsten Quellen zur Roten Kapelle, wird hier nach über siebzig Jahren erstmals veröffentlicht:

National Archives Washington, RG 319 (A1) 134A. IRR Impersonal Files. Box 63. Volume 4 (Folder 4 of 4). Report Bolschewistische Hoch- und Landesverratsorganisation im Reich und Westeuropa ("Rote Kapelle"). 96-page document tabbed. Location: 270: 84/21/03.


Bundesarchiv, Signatur R 22/3100. Onlineversion.
Sahm, Ulrich: Rudolf von Scheliha 1897-1942. Ein deutscher Diplomat gegen Hitler. München 1990, S. 309.
Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover Nds. 721 Lüneburg, Acc 69/76, Bd. 6, Bl. 816-835.
Bundesarchiv, Signatur R 58/1131 S. 37-63. Faksimile.
Tuchel, Johannes: Die Gestapo-Sonderkommission "Rote Kapelle". In: Coppi, Hans/Danyel, Jürgen/Tuchel, Johannes (Hrsg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Berlin 1994, S. 152
National Archives Washington, RG 319 (A1) 134A. IRR Impersonal Files. Box 63. Volume 4 (Folder 4 of 4). Report Bolschewistische Hoch- und Landesverratsorganisation im Reich und Westeuropa ("Rote Kapelle"). 96-page document tabbed. Location: 270: 84/21/03. Faksimile PDF 24 MB.
Sahm, a.a.O. S. 308 ff. Widerlegung der Argumente siehe:
Koblank, Peter: Ist der Gestapo-Bericht zur Roten Kapelle eine Fälschung? Widerlegung der zehn Argumente von Ulrich Sahm. In: Online-Edition Mythos Elser.
Summary Report of Investigation. Subjest: Rote Kapelle (Red Orchestra). 13. Mai 1948. Faksimile PDF 2,1 MB.